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Der Fluch
der McGullians
© by Sandra Kuhn
Die Luft in dem engen Raum war dünn und stickig, und leichte
Rauchschleier des Zigarettenqualmes legten sich um die Köpfe
der Fahrgäste. Einige starrten unaufhörlich aus dem dreckigen
Fenster hinaus auf den mit Regenwolken verhangenen tiefgrauen Himmel.
Immer wieder prasselte ein Schauer gegen die Glasscheiben und verschmierte
den staubigen Schmutz. Kein einziges Wort fiel, nur das unaufhörliche
Rattern der Räder auf den Schienen war zu vernehmen.
Sie saß tief in ihrem Sitz gelehnt, den Arm auf der Lehne
ruhend, die sie sich mit einem älteren Herren teilte, und
blickte aus dem gegenüberliegenden Fenster. Angestrengt versuchte
sie sich an ihren letzten Besuch zu erinnern, der vermutlich schon
etliche Jahre zurück liegen mußte.
Der Zug kam langsam quietschend zum Stehen, und einige Insassen
bewegten sich gemächlich dem Ausgang zu. Manche erweckten
den Eindruck, als könnten sie es nicht erwarten aus dem stickigen
Abteil zu kommen, andere hingegen schlenderten gemächlich
in Richtung Tür. Sie jedoch spürte, wie ihr Herz schwerer
und schwerer wurde, je näher sie der Endhaltestelle kam. Wie
würde man sie aufnehmen nach so langer Zeit? Sie ließ den
Kopf in ihre Handflächen sinken und blickte den Gang hinunter.
Am hinteren Ende des Abteils entdeckte sie ein kleines Mädchen
mit strohblonden Haaren und den feinsten Löckchen, die sie
je gesehen hatte. Die Kleine starrte sie mit ihren rehbraunen Augen
an und lächelte. Ja, sie strahlte sie einfach an. Alte Erinnerungen
kamen wieder zum Vorschein, die sie in der tiefsten Ecke ihrer
Seele versteckt zu haben glaubte. Nein, sie wollte sie endlich
ruhen lassen. Mit Tränen gefüllten Augen sah sie hoch,
konnte den Blick jedoch nicht lange von dem Mädchen abwenden.
Jetzt, als sie wieder zu der Ecke blickte, in der die Kleine gesessen
hatte, fand sie eine ältere Frau, wohl Mitte fünfzig,
vor. Sie schüttelte leicht den Kopf. Konnte das wahr sein?
Hatte sie sich dieses kleine Mädchen nur eingebildet?
Mit einem leichten Ruck fuhr der Zug erneut an. Aus einem der hinteren
Abteile sah sie den, in blauer Uniform gekleideten, Schaffner kommen.
Sie kramte ihre Fahrkarte aus einer der Taschen hervor, die zu
ihren Füßen auf dem Boden standen. Ihr Blick fiel auf
den kleinen zerfledderten Ausweis, der in einem Fach ihrer Geldbörse
steckte. Sie zog ihn leicht heraus und las leise für sich,
die Lippen bewegend, was darauf stand.
Sarah McGullian ... geboren am vierten Juli 1961.. .
Wie die Zeit verging, dachte Sarah, mittlerweile war sie schon
sechsundzwanzig. Wo waren nur all die Jahre geblieben?
Sie sog scharf die Luft ein. Nein, sie sollte nicht daran denken.
Sicher würden die zwei Wochen Ferien zu Hause eine Ablenkung
für sie sein. So sehr wünschte sie sich ihre Großmutter
wieder in die Arme zu schließen. Sie brauchte sie nun mehr
denn je.
In ihrem Abteil, nicht weit von ihrem Sitz, begann ein kleiner
Junge zu weinen. Erst schluchzte er ganz leise vor sich hin, bis
er schließlich ein wütendes Schreien verlauten ließ.
Sie fragte sich, ob sie wohl auch so geklungen hatte als sie damals
im Krankenhaus von der schrecklichen Nachricht gehört hatte
und daraufhin zusammen gebrochen war. Sicherlich. Manchmal ist
es eben besser, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, doch
das hatte sie schon ein ganze Weile nicht mehr getan. Sie fühlte
sich, als würde sie einen Zentner Last mit sich herum tragen.
Ihre Glieder waren müde und ihre Gedanken kreisten nur noch
um das Eine, doch sie wollte jenem Druck standhalten. In den letzten
Monaten hatte sie sich in ihre Arbeit gestürzt. Dutzende Überstunden
machte sie freiwillig, um nicht allein in die leere Wohnung heimkehren
zu müssen. In das kleine Appartement im ersten Stock, in der
noch immer Erinnerungen wie eingebrannt schlummerten. Doch nun
saß sie in diesem Zug, der sie in ein paar Stunden in die
kleine Stadt brachte, nicht weit entfernt von Creenwich, dem Anwesen
ihrer Familie.
Endlos schien ihr die Fahrt, ein Haltepunkt folgte dem Nächsten.
Bald waren kaum mehr Leute in ihrem Abteil. Sie lehnte den Kopf
gegen die kalte Fensterscheibe und schloß die Augen. Es war
ein angenehmes Gefühl, als würde mehr und mehr Ballast
von ihr abfallen, je näher sie ihrem Ziel kam. Vielleicht
war dies genau das, war sie brauchte.
Eine leise Stimme rüttelte
sie aus dem Schlaf. "
Miss ... Miss wachen sie bitte auf." Zaghaft öffnete
sie die Augen und fuhr erschrocken hoch als sie begriffen hatte,
daß sie eingenickt war. "
Wo sind wir?", fragte Sarah verschlafen. "
An der Endhaltestelle in Maryleed." Der Schaffner wirkte besorgt. "
Dann muß ich hier aussteigen. Wie lange sind wir schon hier?" Der
Mann zögerte, als würde er die genaue Zeit berechnen
wollen. "
Etwa eine Viertelstunde, vielleicht aber auch schon zwanzig Minuten.
Kommen sie, ich werde ihnen nach draußen helfen." Er
stützte Sarah beim Aufstehen und trug ihren Koffer auf den
dunklen, leeren Bahnsteig hinaus. "Kommen sie zurecht Miss?" "
Jaja, machen sie sich bitte keine Sorgen." Doch in dem Gesicht
des jungen Mannes zeichneten sich weiterhin diese dunklen Falten
auf der Stirn ab. "
Sind sie sich sicher? Ich könnte sie zu der nächsten
Bushaltestelle begleiten, wenn sie das möchten. Es ist schon
sehr spät." Sie wagte einen kurzen Blick auf die kleine
schwarze Armbanduhr, tatsächlich war es schon viertel nach
zehn. Eigentlich sollte sie der Alte Burt Hanson vom Bahnhof abholen,
doch als sie auf dem Bahnsteig entlang blickte konnte sie keine
Gestalt erkennen. "
Sagen sie, haben sie vielleicht einen Mann gesehen? Etwa einen
Meter neunzig, graues, lichtes Haar, sehr dünn?" Er überlegte
kurz, wobei er sich nachdenklich die dunklen Haarsträhnen
aus dem Gesicht streifte. "
Meinen Sie vielleicht den mit dem alten Jeep? Ja, so ein Herr steht
seit einiger Zeit vor der Eingangshalle. Kommen Sie, ich begleite
sie dahin." Er fing sie ab, als Sarah schwankte und half ihr
die Eingangstreppen hinaus. Der Wind fuhr um ihre Körper und
ließ Sarah frösteln. Ihre Schatten schleppten sich mühsam über
den steinigen Boden, einige Laubblätter trieben ihr wildes
Spiel um ihre Füße. Der Mann stieß mit einem kräftigen
Ruck das alte Eingangstor auf, das mit quietschenden Angeln den
Weg auf die Straße frei gab. Sarah schirmte ihre Augen mit
einer Hand ab, um sie vor dem kalten Wind zu schützen. Unter
einer der hohen Laternen erkannte sie eine hagere Gestalt neben
einem alt wirkendem Fahrzeug. Die Person kam ihnen entgegen, etwa
auf halber Höhe erkannte sie ihn als den langjährigen
Fahrer ihrer Familie. Sie umarmte ihn und drückte den alten
Mann an sich. Sogleich kitzelte sie der herbe Geruch von Pfeifentabak
in der Nase. Freudentränen glänzten in ihren braunen
Augen. "
Miss McGullian, ich freue mich sie endlich wieder zu sehen." Er
tätschelte sanft ihren Rücken. "Zu viele Jahre sind
seither vergangen. Ihre Großmutter ist glücklich, daß sie
wieder heim kehren. Wir sollten uns beeilen, sie können es
sicher kaum erwarten alles wieder zu sehen." Sie löste
ihre Umarmung und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel
aus dem Gesicht. "
Ja, ich freue mich auf Zuhause. Ich habe sie alle so sehr vermißt."
Burt nahm dem jungen Mann, der noch immer hinter Sarah stand, die
zwei Koffer ab und lud sie in den Kofferraum des grauen Jeeps. "
Kommen sie zurecht Miss?", fragte der Schaffner nochmals. "
Ja, ich danke ihnen." Sie reichte ihm die Hand und er ergriff
sie zögernd. "
Ich hoffe, sie haben einen schönen Aufenthalt." Er lächelte
sie sanft an und verschwand dann in dem Dunkel der Bahnhofshalle.
Ein leichtes Zupfen an ihrem Ärmel riß sie aus ihren
Gedanken. "
Miss McGullian bitte steigen sie in den Wagen, es ist sehr kalt
hier draußen. Womöglich erkälten sie sich sonst
in ihrem dünnen Mantel. Lassen sie uns fahren." Er begleitete
sie die paar Schritte zum Wagen und öffnete ihr die Beifahrertür.
Als Sarah einstieg, bemerkte sie Burts besorgtes Gesicht.
Sie war es leid, in ihrer Umgebung diese befangenen Mienen zu sehen.
Alle Welt dachte, daß man sie jetzt fürsorglicher behandeln
müßte, nach diesem schrecklichen Zwischenfall. Vielleicht
war es genau das, wovor sie geflüchtet war. Und wohin? Hier
hatte sie dieselben betroffenen Gesichter vor sich. Hier würde
man ihr dieselbe übertriebene Fürsorge zukommen lassen,
als sei sie zerbrechlich wie Glas, das sogleich zerspringen könnte.
Doch all das hatte sie versucht hinter sich zu lassen. Aber wie
war sie nur darauf gekommen, daß es Zuhause anders war? Immerhin
kannte man sie hier seit ihrer Geburt. Sie mußten doch Anteilnahme
zeigen. Oder? Natürlich!
Die Fahrt führte sie über alte Holzbrücken, über
die sie in ihrer Kindheit auch schon gelaufen war, an Flüssen
entlang, die sie so düster nicht mehr in ihrer Erinnerung
hatte. Wiesen und Felder waren mit grauen Nebelschleiern bedeckt
und konnten einen schon einen gewaltigen Schauer über den
Rücken jagen. Weit entfernt auf dem kleinen Hügel erspähte
sie viele kleine Lichter. Creenwich, dachte Sarah. Endlich war
sie Zuhause.
Der Empfang war herzlich. Ihre Großmutter kam ihr bereits
auf dem Hof entgegen und schloß sie in die Arme. Beide Frauen
weinten vor Freude, einander wieder zu sehen, vielleicht aber auch
weil der Anblick den Schmerz des Verlustes in ihre Gedanken rief.
So lange hatten sie sich nicht mehr gesehen. Charlotte Gullian
wirkte kleiner und zerbrechlicher als Sarah sie in Erinnerung hatte,
doch seit damals war ein halbe Ewigkeit vergangen, inzwischen war
sie Ende siebzig. Kaum eine Strähne der langen weichen Locken
war nicht vom Grau des Alters befallen und hatte so die kastanienbraune
Farbe verdrängt. Die sonst tief blauen Augen waren verblaßt
und erinnerten nun an die graue Farbe eines Schieferdaches. Einige
zusätzliche Falten auf der schmalen Stirn und die schlaffe
Haut am Hals ließ sie zusätzlich gealtert aussehen.
In Sarahs Gedanken trat das Bild ihrer Großmutter, als sie
Creenwich verlassen hatte. Damals schon reichte Charlotte ihr gerade
mal bis zum Kinn, heute jedoch, sieben Jahre später, mußte
sie sich bücken um sie umarmen zu können. "
Du mußt furchtbar müde sein. Komm Kind, drinnen ist
es warm. Am besten legst du dich erst einmal eine Stunde hin und
wir essen danach zu Abend." Sarah hatte keine Lust zum Widerspruch
und sie mußte zugeben, daß sie sich tatsächlich
etwas erschöpft von der langen Fahrt fühlte. Langsamen
Schrittes folgte sie, ihre Großmutter in den Armen haltend,
Miles Pierson, dem Butler, durch den Hof. Entlang an den Pferdeställen,
die vor langer Zeit ihr Lieblingsplätzchen gewesen waren,
vorbei an der kleinen Scheune, die zwei der alten Pferdekutschen
beherbergte. Schon von weitem bemerkte sie den kleinen steinernen
Adler über der großzügig angelegten Eingangstür.
Früher hatte sie sich stets davor gefürchtet, unter diesem
dunkel dreinblickenden Geschöpft über die Schwelle ins
Haus zu gehen, doch jetzt beruhigte es sie ein wenig, daß noch
alles so war wie vor all den Jahren. Selbst die alte klapprige
Hundehütte, die unbewohnt zu sein schien, stand noch immer
auf der vordersten Seite des Dreiseiten Hofes. Ihre Absatzstiefel
klapperten auf dem steinigen Boden, als sie Schritt für Schritt
ihrem alten Leben entgegen trat. Sarah schloß die Augen und
atmete bedächtig den herben Geruch ein, es war so schön
endlich wieder zuhause zu sein.
Der kalte Wind des Novemberabends umhüllte ihren Körper,
Sarah begann zu frösteln. Ihr Haar wehte wirr um ihren Kopf,
so daß sie es mit einer Hand festhalten mußte. Das
Licht, daß durch die kleinen Fenster nach draußen drang,
erhellte spärlich den kleinen Vorplatz, als sie in das Haus
gingen. Drinnen schlug Sarah eine wohlige Wärme ins Gesicht.
Betty McGregor stand bereits in der schmalen Vorhalle, um ihren
Mantel und die Taschen entgegen zu nehmen. Sie war eine hochgewachsene
Frau mit schwarzem Haar, dessen Farbe an die eines Indianers erinnerte
und den schönen blau schimmernden Augen, die wie Bergkristalle
zu leuchten schienen. "
Hallo Betty." Sarah umarmte sie. Betty war Anfang Vierzig
und zugleich das Zimmermädchen des Hauses als auch das damalige
Kindermädchen Sarahs und ihrer Schwester. Als Sarah aufblickte
bemerkte sie die Tränen in Bettys Augen und mit einem Mal
wurde ihr bewußt, das jemand fehlte, sie war vor sieben Jahren
nicht allein aufgebrochen, um in Dublin zu studieren, sondern sie
war mit ihrer Schwester gegangen und kam heute allein zurück.
Mit einem kurzen, kaum merklichen, Kopfschütteln verscheuchte
sie die Gedanken aus ihrem Kopf. Burt übergab Betty die zwei
zerschrammten Lederkoffer aus dem Auto. "Ich werde deine Sachen sofort nach oben bringen Sarah. Ich
habe eines der Gästezimmer für dich vorbereitet." "
Das Gästezimmer? Was ist aus meinem alten Zimmer geworden?" Sarah
blickte verwundert in die Gesichter Bettys und ihrer Großmutter. "
Es ist alles noch genauso wie ihr es damals verlassen habt und
deswegen hatte ich Betty gebeten ein Gästezimmer zurecht zu
machen. Aber wenn du willst..." "Das geht schon in Ordnung, ich werde in dem Gästezimmer
schlafen, Großmutter.", unterbrach sie Charlotte. Vielleicht
wäre
das auch zu viel der Erinnerung in ihrem alten Zimmer zu schlafen,
nach all dem was geschehen war.
Ein zaghaftes Klopfen an der hölzernen Tür ließ Sarah
aus ihrem Schlaf erwachen. Vorsichtig öffnete sie sich einen
Spalt breit, und der kleine rundliche Kopf Bettys lugte hindurch.
Als sie bemerkte, daß Sarah nicht mehr schlief, schlüpfte
sie in den halbdunklen Raum. In der Hand trug sie zwei weiße
Handtücher und Feuerholz in der anderen. Betty schlich in
das angrenzende Bad, daß zu dem Zimmer gehörte und legte
die Handtücher über dem Badewannenrand ab. Zunächst
schien sie Sarahs prüfenden Blick nicht wahr zu nehmen als
sie das Holz fein säuberlich im Kamin aufstapelte und Feuer
machte. Ein herrlicher warmer Lichtschein erhellte das Zimmer.
Trotzdem fröstelte Sarah unter der dünnen Decke und vergrub
sich tiefer in den weichen Kissen. Betty zog die schweren Vorhänge
vor das Fenster; sie fühlte sich unwohl, wußte nicht
so recht, wie sie sich ihrem ehemaligen Pflegekind gegenüber
verhalten sollte. Doch inzwischen war aus dem kleinen liebenswürdigen
Mädchen von damals eine erwachsene gutaussehende Frau geworden
und ihr gebührte der Titel ebenso wie ihrer Großmutter.
Doch am liebsten hätte sie Sarah in die Arme genommen; sie
fühlte sich hilflos. "
Es wird bald zu Abend gegessen." Sarah seufzte leise unter
der Bettdecke. "Darf ich Ihnen noch irgend etwas bringen?" "
Nein, danke Betty." Sie war es nicht gewöhnt, daß man
sie seit Ihrer Ankunft so förmlich ansprach, doch das gebot
die Höflichkeit und seit jenen Jahren ihrer Kindheit war einige
Zeit vergangen.
Als Sarah die wohlige Wärme durch die dünne Bettdecke
hindurch spürte, schlang sie die Beine aus dem Bett auf den
kuscheligen Vorleger und huschte zu Betty hinüber, die noch
immer vor dem Fenster stand. Zu deren Überraschung schlang
Sarah die Arme um sie und drückte sie fest an sich. "
Wie habe ich dich vermißt.", sagte sie leise. Sarah
konnte ihren Herzschlag fühlen und ein vertrautes Gefühl
stieg in ihr auf. So hatten sie, als Sarah noch klein war, immer
vor dem Kamin gesessen und zusammen gelesen oder Betty hatte eine
ihrer spannenden Geschichten erzählt. Doch dies war nun alles
Vergangenheit und Sarah wünschte sich noch einmal dieses unbeschwerte
Mädchen sein zu können. Als Sarah ihre Umarmung langsam
löste erhaschte sie den Blick auf Bettys verschwommene Augen,
die sie sich rasch trocknete, dann setzte sie dieses alles erwärmende
Lächeln auf und schlug in die Hände. "
Wir sind alle so froh, daß sie wieder da sind Sarah. Willkommen
zuhause." Mit diesen Worten verließ sie das kleine Zimmer
und ließ eine verdutzte Sarah zurück. Solch eine Reaktion
hatte sie nicht erwartet. Doch von draußen, auf dem Gang,
drang das leiser werdende Schluchzen an ihre Ohren. Einige Sekunden
hielt sie die Luft an und horchte gebannt auf den kläglichen
Laut. Hatte sie Betty etwa verunsichert, als sie plötzlich
zu ihr geschlichen war um sie zu umarmen? Doch auf einmal fiel
es ihr wie Schuppen von den Augen. Natürlich, das war es.
Sie weinte um Eliza. Schließlich hatte sie ihr mindestens
genauso nahe gestanden wie sie selbst.
Das Haus stellte sich als noch
genauso schön heraus, wie
sie es in Erinnerung hatte, gestand sich Sarah ein, während
sie die langen hellen Gänge entlang nach unten schlich. Leises
Klappern und Gemurmel war zu vernehmen als sie den Treppenabsatz
erreicht hatte. Der alte glitzernde Kronleuchter, der von der Decke
einige Meter herab hing und den sie bestaunte, als sie Stufe für
Stufe der steinernen Wendeltreppe folgend tiefer stieg, wirkte
noch immer märchenhaft auf sie. Etwa drei Meter hing er über
dem abgetreten aussehenden dunkelroten Plüschteppich und zauberte
leichte Schimmer auf dessen Muster. Auf den Stufen waren scheinbar
erst kürzlich neue Läufer befestigt wurden, welche die
Treppe rutschfest machte. Aus einem der Türrahmen zum Speisesaal
kam eine kleine, rundliche Gestalt auf sie zu. Miles blieb an der
untersten Treppe stehen und wartete geduldigen Blickes auf Sarah.
Als sie in seine Reichweite kam, schlang er ihr einen Arm um ihre
Hüften und dirigierte sie sanft in den großen Raum. "
Wir haben heute etwas besonderes zubereitet.", scherzte er.
Sarah mußte unwillkürlich lachen. "
Miles, Sie sind mir aber Einer. Tischen Sie nicht immer leckere
Sachen auf?", neckte sie ihn, und er kräuselte seine
schmalen Lippen zu einem gerührten Lächeln. "
Miss Sarah. Sie können sich nicht vorstellen, wie sie in diesem
Haus gefehlt haben." Mit diesen Worten zog er ihr einen Stuhl
zurecht und ließ sie sich setzen. Die Runde war recht klein,
denn eigentlich bestand sie nur aus Charlotte und Sarah, die beide
an dem für zehn Personen gedachten Tisch wie verloren wirkten.
Zwei Kerzenständer flackerten vor sich hin, während Sarah
das alte Speisezimmer betrachtete. Merkwürdig, sie hatte es
viel größer in Erinnerung, doch wahrscheinlich lag das
nur daran, daß sie um einige Zentimeter gewachsen war, seit
ihrem letzen Aufenthalt in jenem Raum. An der Stirnseite prangte
ein großes Ölgemälde in einen prunkvollem goldenen
Rahmen eingefaßt, das Charlotte und ihren verstorbenen Mann
Patrick in jungen Jahren zeigte. Sie saß auf einem thronenden
Stuhl, der mit roten Stoff bezogen einen wunderbaren Kontrast zu
ihrem altblauen viktorianischen Kleid gab. Patrick stand hinter
ihr und hatte seine Hand beschützend um seine Frau gelegt.
Seine blonden Locken erinnerten sie an Eliza und sich selbst. Sie
hatte ihn kaum gekannt, denn er war schon sehr früh an einer
Lungenentzündung gestorben, doch an eines erinnerte sie sich
genau und sie mußte ein Schmunzeln unterdrücken, während
sie in Gedanken schwelgte. Eines Morgens war Patrick in ihr beider
Zimmer gekommen, mit funkelnden Augen und hatte sie nach draußen
gelockt, eine Überraschung sollte es sein. Oh ja, das war
es. Wie alt mochten sie beide wohl gewesen sein, versuchte sich
Sarah zu erinnern. Vielleicht acht oder auch neun Jahre. Als sie
nun aus der kleinen Tür zum Hinterhof gerannt kamen konnten
sie ihren Augen kaum glauben, so standen doch, wie aus dem Nichts,
zwei Ponys vor ihnen. Mit großen, leuchtenden Augen und offenen
Mündern hatten sie sich auf sie gestürzt.
Als sie sich wieder erinnerte wo sie sich befand, rollten bereits
einige dicke Krokodilstränen über ihre rosigen Wangen.
Als fühlte sie sich ertappt, wischte sie diese eilig fort,
bevor ihre Großmutter es bemerken würde, doch Charlotte
hatte es bereits gesehen und legte ihrer Enkelin beruhigend eine
Hand auf das zitternde Handgelenk. Sarah jedoch konnte den Sturm
der aufkommenden Erinnerung nicht bremsen, und so begann sie zu
schluchzen. Charlotte eilte um den Tisch und hielt sie sanft in
ihren Armen, legte den Kopf auf Sarahs Schulter und vergrub ihr
Gesicht an ihrem Hals. Sie war so traurig, daß nur eine ihrer
Enkelinnen zurück nach Creenwich gekommen war. Sie versuchte
die Gedanken zu verdrängen, an dieses schreckliche Telefongespräch
zwischen ihr und Sarah, kurz nach dem Unglück. Eliza, Sarahs
Zwillingsschwester war tot, und nichts konnte sie wieder zurück
bringen.
Ein spärlicher Lichtstrahl huschte durch die Vorhänge
am Fenster; in seinem Schein tanzten feine Staubkörnchen auf
und ab. Sarah schlief unruhig und warf sich hin und her. Kleine
Schweißperlchen bildeten sich auf ihrer Stirn. Mit einem
leisen Schrei fuhr sie aus dem Traum hoch. Kurze Zeit benötigte
sie, um sich zu orientieren. Doch als sie erkannte, wo sie sich
befand, legte sie sich wieder langsam in die warmen Kissen zurück.
Nur ein Alptraum, dachte sie. Sie versuchte sich nicht einzugestehen,
daß es vor drei Monaten Realität gewesen war, was sie
jetzt, Nacht für Nacht, in ihren Träumen heim suchte.
Kurz blickte sie sich in dem kleinen Raum um und stieg dann entschlossen
aus dem Bett, huschte fröstelnd ins Badezimmer hinüber
und ließ sich ein warmes Bad ein.
Wenig später zog sie leise die alte Tür hinter sich ins
Schloß und begab sich auf einen erkundenden Rundgang, entlang
des kleinen Gemüsegartens, hinter dem Haus, der durch schmale
Zäune umstellt, gehütet wurde vor den streunenden Katzen,
die dennoch hin und wieder heimlich ihr Geschäft zwischen
den grünen Stauden verrichteten. Doch von Gemüse war
an diesem kalten Novembermorgen nichts mehr zu sehen, nur braune
Erde fand sie vor, in der noch vereinzelt kahle, erfrorene Stengel
hervorlugten. Sie trabte entschlossen zu den weitläufigen
Feldern hinüber, auf denen sich Apfelbäume aneinander
reihten. Als sie schließlich zu einem verkümmerten dünnen
Baum gelangte, der sämtliche Blätter verloren hatte,
blieb sie stehen. Sollte das etwa der kleine Fliederbaum sein,
den sie mit Eliza an ihrem zwölften Geburtstag gepflanzt hatte?
Sie spähte zu den anderen Bäumen hinüber und stellte
dann triumphierend fest, daß er es tatsächlich war.
Sie versuchte sich zu erinnern, wie er ausgesehen hatte, bevor
sie Creenwich verlassen hatten. Damals, an einem warmen Julinachmittag
saß sie mit ihrer Schwester hier, sich die Hände haltend
und einige Vögel trällerten munter ihr Liedchen in dem
knorrigen Apfelbaum nebenan, der sich mit den Jahren bedrohlich
weit zum Boden neigte, neben ihm, einer Azalee gleich so wunderschön,
streckte ein Fliederbaum seine dünnen Äste dem Himmel
entgegen. Wie waren sie beide stolz gewesen. Sarah konnte nicht
widerstehen, den mittlerweile wohl an die zwei Meter reichenden
Baum zu berühren. Er war tatsächlich da, es war also
kein Traum.
Sie wanderte den kleinen angrenzenden Hügel hinauf, an Baumgruppen
vorbei, überquerte ein kleines Rinnsal, indem sie den umgekippten
Baumstamm als Brücke nutzte und spazierte auf, mit buntem
Laub bedeckten Feldwegen, umher. Die Luft war kalt aber klar, und
sie stieß bei jedem Atmen eine kleine Wolke aus. Als ihre
Hände immer kälter wurden, steckte sie die schmalen Finger
in die mitgebrachten Handschuhe. Sarah mußte zugeben, daß sie
sich so wohl fühlte wie seit langem nicht mehr. Das Umland
kam ihr vertrauter vor denn je. Schließlich hatte sie den
höchsten Punkt des angrenzenden Geländes erreicht und
stand nun unter ein paar kahlen Birken und blickte auf das Land
unter ihr. Sie konnte ganz Creenwich überschauen. Das Haupthaus
mit seinen beiden Seitengebäuden wirkte verschlafen in der
morgendlichen Dämmerung. Ein paar Hühner gackerten auf
dem Hof herum, während zwei Ziegen trübsinnig auf der
benachbarten Wiese umher schlichen. Ab und an drang ein leises
Wiehern an ihre Ohren. Sie legte den Kopf in den Nacken und sog
bedächtig die Luft ein, doch bis hierher zu den Hügeln
reichte der herbe Stallgeruch nicht. Von den sonst grünen
Efeuranken, die fast das gesamte Haus um wuchert hatten, waren
nur noch ein paar armselige Blätter an den braunen Ranken
zu erkennen, und die graue Farbe des Hauses ließ sich unter
ihnen erahnen. Der kleine Wald nebenan gab die Sicht auf den nicht
weit entfernten See frei. Sarah wurde mit einem Mal bewußt,
daß sie sich einsam fühlte ohne Eliza. Den größten
Teil in ihrem Leben hatte stets sie eingenommen, und nun war da
nur noch eine gähnende Leere. Sie starrte zu dem wolkenverhangenen
Himmel; vielleicht waren sie und ihre Mutter jetzt da oben und
schauten auf sie herab. So gern wollte sie daran glauben, doch
ihr Verstand sagte etwas anderes. Eine Weile dachte sie darüber
nach.
Nicht einmal ihre Mutter hatten sie gekannt. Sie war einige Jahre
nach ihrer Geburt gestorben. Josephine McGullian und Sarahs Tante,
Jane Evans, waren mit dem Auto unterwegs gewesen und gerieten in
einen fürchterlichen Sturm, so hat es Charlotte stets erzählt,
wenn sie oder Eliza nach ihr gefragt hatten. Ein schrecklicher
Unfall, der ihrer Mutter und deren Schwester das Leben gekostet
hatte. Sie konnte sich an das Gemälde erinnern, daß an
der Wand zur Treppe hing und Josephine und Jane im Studentenalter
zeigte; gemalt nach ihrer beider bestandenen Abschlußprüfung.
Sarah bemerkte, daß es zwischenzeitlich angefangen hatte
zu nieseln. Eilig ging sie den Weg zurück, den sie gekommen
war und sehnte sich bald nach einem trockenen Unterschlupf, doch
sie wollte schnellstmöglich wieder zuhause sein.
Sarah blickte,
die Nase an der Scheibe plattgedrückt, aus
dem Fenster. Es goß seit Stunden wie aus Wasserkübeln,
und sie wagte sich nicht einmal hinüber in den Stall, ohne
dabei völlig durchnäßt zu werden. Das Licht des
Kronleuchters spiegelte sich in der Glasscheibe und ließ sie
wieder in die Gegenwart zurück kommen. Sie fühlte sich
nutzlos; es gab nichts das sie tun konnte. Wie mochte es wohl in
ihrem damaligen gemeinsamen Zimmer aussehen, nur schwache Bilder
konnte sie sich in ihr Gedächtnis rufen. Vielleicht würde
es zu viele Erinnerungen in ihr hervor bringen, denen sie sich
nicht ergeben wollte.
Doch die Neugier war einfach zu stark und so schlich sie sich in
die obere Etage hinauf und spähte, die Tür nur einen
Spalt breit geöffnet, in das dunkle Zimmer. Nichts rührte
sich, weder Sarah wagte zu atmen, noch war irgend ein Geräusch
von unten her zu vernehmen. Vorsichtig trippelte sie in die schmale
Kammer. An einer Seite des Raumes standen zwei Betten, nur durch
eine kleine hölzerne Kommode abgetrennt. Einige Bücher
standen in dem wackeligen Regal sowie Puppen und einige vergilbte
Schreibhefte. Das damalige Durcheinander hatte seine Ordnung gefunden,
doch wahrscheinlich hatte Betty etwas nachgeholfen. Im ganzen Zimmer
sah sie sich um, untersuchte jede Ecke und auch den winzigsten
Spalt, aber sie vermißte die hölzerne Flöte, die
sie als Kind wie ihren Augapfel gehütet hatte. So sehr wünschte
sie sich in diesem Augenblick ein paar Takte spielen zu können,
doch nirgends konnte sie das kleine Instrument entdecken. Vielleicht
oben auf dem Boden, dachte Sarah. Unschlüssig stand sie ein
paar Minuten da. Konnte das möglich sein? Doch es half nichts,
sie würde wohl auf dem staubigen Speicher danach suchen müssen.
Sanft öffnete sie die Tür und steckte den Kopf hinaus
auf den Gang, es war niemand zu sehen. Auf leisen Sohlen stieg
sie die knarrende Bodentreppe hinauf und drückte schließlich
die Türklinge hinunter. Die Tür öffnete sich. Kalte,
stickige Luft umhüllte sie. Solange sie denken konnte, hatte
sie diese Bodenkammer gemieden und Sarah war von sich selbst überrascht,
daß ihre Neugierde sie in diesem Augenblick dazu brachte
den, ihrer Meinung nach, unheimlichen Ort zu betreten.
Die drei Fenster an der Längsseite reichten bis zum Boden
und erhellten den Raum ausgiebig. Sarah hörte das Trommeln
des Regens auf den Dachschindeln. Vor ihr stapelten sich Dutzende
Kisten und Pappschachteln. Einzelne Möbelstücke waren
mit großen weißen Tüchern umhüllt, die inzwischen
allzu verstaubt aussahen, andere standen wiederum ohne jeglichen
Schutz in der Kammer. Einiges Gerümpel häufte sich an
der Seite von wertvoll aussehenden Gegenständen, und der alte
Teppich unter ihren Füßen spie bei jedem Schritt mehr
Schmutz in die Luft. Modergeruch mischte sich mit dem Duft von
Mottenkugeln und Sarah hatte große Mühe ruhig zu atmen.
An der Rückseite des Raumes bemerkte sie einen großen
viereckigen Schrank, dessen Holz noch immer glänzte. Zögernd
ging sie darauf zu und öffnete eine der Türen mit einem
leisen Quietschen. Völlige Dunkelheit öffnete sich ihr.
Sie konnte einige alte Kleidungsstücke erkennen und auch die
bereits erahnten Mottenkugeln. Plötzlich fiel ihr Blick auf
ein großes Bild, in einem einfachen Holzrahmen ohne Schnörkel,
eingefaßt; es lehnte zwischen dem Schrank und der kalten
grauen Wand. Mit Bedacht zog sie das Gemälde zu sich heran
und nahm es in beide Hände, um es genauer ansehen zu können.
Es zeigte zwei kleine Mädchen mit besonders schönen blonden
Locken und großen rehbraunen Augen. Sie fühlte sich
an das Mädchen im Zug zurück erinnert, daß es doch
eigentlich nicht gegeben hatte. Freundlich lächelten die beiden
Kindergesichter Sarah an. Konnte das sein? Waren das Eliza und
sie selbst vor all den vielen Jahren? Sie konnte sich nicht erinnern,
je ein solches Bild gesehen zu haben, aber wahrscheinlich hatte
sie es einfach nur vergessen. Die beiden Mädchen waren durch
nichts zu unterscheiden. Wie ein Ebenbild glichen sie sich aufs
Genaueste. An einigen Stellen, am Rand des Gemäldes, begann
langsam die alte Ölfarbe abzubröckeln. Als Sarah das
Bild absetzen wollte fiel etwas dahinter zu Boden. Sie blickte
hinab und erkannte einige Dokumente in einer zerschlissenen Papiermappe,
die bei dem Fall über den gesamten Boden verstreut wurden.
Behutsam setzte sie das Bild neben sich auf den Teppich und begann
am Boden entlang kriechend die vielen Seiten aufzusammeln. Nachdem
sie alle beisammen hatte und auch unter den verschiedenen Möbelstücken
keines mehr erspähen konnte, klopfte sie sich einen nahestehenden
Stuhl vom Staub frei und setzte sich darauf. Nacheinander begann
sie jedes genau zu beäugen und unter die Lupe zu nehmen. Einige
Einkaufszettel, Weihnachtswunschlisten von einer kleinen Kinderhand
geschrieben, verschiedenste Kaufverträge und etliche Urkunden
waren darunter. Als Sarah die Belege gerade wieder zurück
legen wollte, fiel ihr Blick auf eine geheftete Sammlung Blätter.
Auf der ersten Seite prangte in großen schwarzen Lettern "Adoptionspapiere" in
der Kopfzeile. Ihre Gedanken überschlugen sich und sie blätterte
flüchtig jede Seite des Stapels durch. Phantasien kreisten
wirr in ihrem Kopf und Erinnerungen vermochten sich mit dem Erschreckendem
zu paaren. Tränen füllten ihre Augen und perlten von
ihrer bleichen Wange auf die Papiere. Nein, nein, das durfte einfach
nicht wahr sein, dachte Sarah. So etwas gab es doch nicht. Oder
doch? Sie versuchte sich an das letzte Gespräch mit Charlotte
zu erinnern, in der sie und Eliza sehnsüchtig näheres über
ihre Eltern wissen wollten. Sie sah das Bild nun genau vor sich.
Dunkelheit herrschte im Zimmer, nur das klägliche Licht der
metallenen Tischleuchte erhellte den Raum. Sie hockte unter der
warmen Bettdecke und spähte abwechselnd zwischen Eliza und
ihrer Großmutter hin und her. In Elizas rehbraunen Augen
tanzten die Lichtreflexe, die die Lampe in die Kammer warf. Ihre
blonden Locken hingen, in einem geflochtenen Zopf gebändigt,
auf ihrem Rücken und reichten mittlerweile bis auf das Kopfkissen
hinab. Ihre blasse Haut schien goldfarben von dem geblichen Licht.
Wißbegierig lauschten sie den Worten Charlottes, die auf
Sarahs Bett hockte und ins Nichts blickte, während sie erzählte. "
Eure Mutter war ein kluge Frau und ihr habt zweifelsohne ihre schönen
Locken geerbt." Gedankenverloren spielte sie mit einer Strähne
von Sarahs wilder Mähne... Ü
ber ihren Vater hatte ihre Großmutter nie gesprochen. Leise
begann Sarah zu schluchzen. Nun wußte sie warum, ihn hatte
es nie gegeben. Waren all diese Geschichten nur Erfindungen Charlottes
um ihnen zu verheimlichen, daß Josephine und Jane nur in
ihrer Phantasie gelebt hatten, und daß Eliza und sie von
ihr adoptiert worden waren? Hatte sie die beiden mit der Lüge
aufgezogen, ihre Eltern seien bei einem tragischen Unfall ums Leben
gekommen? Wie oft hatte sie in ihrer Kindheit wach gelegen und
sich nach ihrer Mutter gesehnt. Doch all das war anscheinend ein
großer Schwindel. Sie versuchte wieder klar denken zu können
und ging nochmals die Akten durch. Die klare Schrift war bereits
ein wenig vergilbt und es strengte sie an, darin zu lesen. An einigen
Stellen konnte man nur noch das bloße Papier erkennen, ohne
Hinweis auf die verblichene Handschrift. Doch, so mußte es
gewesen sein. Charlotte hatte vorgeben ihre Großmutter zu
sein, doch statt dessen war sie ihre Mutter, die sie stillschweigend
adoptiert hatte. Nach und nach fügte sich ein Teil nach dem
anderen des Puzzles in Sarahs Kopf zusammen. Sie hatte keinerlei
Erinnerung an Josephine oder ihren Vater und kannte sie nur durch
die leidenschaftlichen Erzählungen Charlottes. Sie hatte sie
betrogen und ihr ein anderes Leben vorgegaukelt.
Entrüstet und mit tränennassen Augen stieß Sarah
die Papiere von sich; mit einem leichten Rascheln landeten sie
auf dem Fußboden. Das konnte einfach nicht wahr sein. Bestimmt
war alles nur ein böser Traum, und sie würde gleich aufwachen
und Elizas freundliches Lächeln sehen. Unruhig stand sie auf
und schlurfte mit großer Anstrengung zu einem der großen
Fenster. Noch immer prasselte der Regen ohne Nachsicht auf das
Dach und lief in breiten Rinnsalen an den Glasscheiben hinab. Sie
lehnte den Kopf gegen das kalte Fenster und schloß die Augen.
Ihr Körper bebte von dem hilflosen Weinen. Sie wollte sich
an gleicher Stelle umdrehen und zu Boden gleiten lassen, doch als
sie den Rücken an die Scheibe lehnte, verlor sie den Halt
auf dem kleinen dünnen Läufer. Mit den Armen versuchte
sie ihr Gleichgewicht wieder zu finden, doch mit einer Wucht stieß sie
gegen das Glas. Ein stechender Schmerz machte sich in ihrem Rücken
bemerkbar, und sie hörte ein lautes Knacken. Sie schien zu
Boden zu fallen, doch irgend etwas stimmte nicht.
Ein lauter Schrei durchbrach die ländliche Stille. Selbst
Charlotte McGullian, die über ihrem Buch auf dem Sessel vorm
Kamin eingenickt war, fuhr aus dem Traum hoch. Sie hörte eiliges
Getrampel im Gang, die Haustür wurde grob aufgerissen und
knallte dann hart gegen die rauhe Wand. Sie warf ihr Buch achtlos
beiseite und folgte dem Durcheinander im Haus bis vor den Eingang.
Ein krampfartiger Stich im Rücken ließ sie ihren Schritt
verlangsamen. Die Zeit, die sie brauchte, um auf den Hof zu gelangen,
schien ihr endlos, doch endlich draußen angekommen, eilte
Burt Hanson auf sie zu. Seine Miene war starr und die faltige Haut
blasser als gewöhnlich. "
Was war das für ein furchterregender Schrei?", ihre Stimme
zitterte. "
Es ist Miss Sarah ... sie ist gestürzt.", Charlotte verharrte
plötzlich in ihrem Schritt und schien lange Momente um Fassung
zu ringen. "
Ist sie wohlauf?", fragte sie schließlich. Doch anstatt
seiner Herrin eine Antwort zu geben, führte er sie schnell
wieder ins sichere Haus zurück. "
Burt, sagen sie mir, wie es meiner Enkelin geht.", schrie
sie ihn entsetzt an. Kurze Zeit herrschte Stille und er sah ihr
tief in die Augen als suchte er nach den rechten Worten, und das
tat er mit Sicherheit. "
Sie ist tot, Miss McGullian", wimmerte er. "Sie ist tot."
Er fühlte ein schweres Gewicht in seinen Armen und er hatte
Mühe den ohnmächtigen und in sich zusammen gesackten
Körper sachte zu Boden zu legen.
Es war Ende Mai 1990. Die Wolken
hingen schwer über dem grauen
Himmel und doch lag eine erdrückende Schwüle in der Luft.
Sie stand, hart auf ihren Spazierstock gestützt, auf dem kleinen
Friedhof nahe der Kirche in Maryleed. Drei Jahre waren seit dem
Tod ihrer Enkelinnen vergangen. Sie harrte vehement vor dem grob
behauenen Grabstein.
In tiefer Trauer an eine wunderbare Frau. Sarah McGullian. 1961
- 1987.
Jeden Sonntag war sie in den letzten Jahren hier her gekommen,
doch der Schmerz des Verlustes hallte noch immer in ihren Gedanken.
Nachts wachte sie oft Schweiß überströmt auf und
konnte bis zum Morgen keinen Schlaf mehr finden. Sie dachte an
die letzten Ereignisse, an ihre eigene Dummheit. Wie töricht
sie doch gewesen war. Sie hatte die verstreuten Adoptionspapiere
auf dem Speicher gefunden und da war ihr mit einem Mal bewußt
geworden, daß sie einen Teil ihrer Geschichten den Mädchen
stets verschwiegen hatte. Ihr Mann Patrick und sie konnten keine
eigenen Kinder bekommen und so hatten sie sich vor vielen, vielen
Jahren dazu entschieden zwei Mädchen anzunehmen. Ein Jahr
später waren Jane und Josephine bei ihnen eingezogen. Die
Suche in etlichen Waisenhäusern hatte lange Monate gedauert,
bis sie endlich diese beiden Mädchen gefunden hatten, mit
den strohblonden Haaren und diesen unbezähmbaren Locken. Welcher
Schock war es für sie gewesen als Ronald Finn ihre Tochter
Josephine mit zwei Babys einfach sitzen gelassen hatte. Dieser
Mann verdiente keiner weiteren Erwähnung in ihrem Hause, und
so hatte sie auch ihren Enkelinnen nach dem Tod ihrer Mutter nichts
von ihm erzählt. Doch der Tod Sarahs ergab für sie einfach
keinen Sinn. Viele im Dorf spekulierten darauf, sie habe sich aus
dem Fenster gestürzt, weil sie ein Leben ohne ihre Zwillingsschwester
nicht ertragen konnte; Zwillinge waren nun eben unzertrennlich.
Doch die Bewohner von Creenwich gingen ihren eigenen Vermutungen
nach. Sarah habe das Gemälde ihrer Mutter und Jane gefunden,
daß Eliza und ihr so ähnlich sah und sie hatte geglaubt,
als sie die Papiere fand, daß sie beide angenommen worden
waren. Charlotte mußte schweren Herzens zugeben, daß diese
Idee nicht ganz abwegig war. Doch wie hatte Sarah auch wissen sollen,
daß das Bild lange vor ihrer Geburt in Auftrag gegeben worden
war und nach dem Tod ihr Mutter seinen Platz auf dem staubigen
Boden fand?
Ihr schien es, als würde ein Fluch auf ihrer Familie lasten.
Welchem Umstand konnte man es auch sonst zuschreiben, daß alle
Zwillinge in jeder Generation, geboren mit dem Namen McGullian,
unter verschiedenen Umständen den Tod fanden. Auch das Aufnehmen
von Waisenkindern hatte diesen Lauf nicht gebrochen. Wahrscheinlich
würde die Wahrheit nie ans Licht kommen und ihre Familie würde
mit ihrem eigenen Tod aus der Geschichte gestrichen, als hätte
es ihre Vorfahren nie gegeben.
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